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Vasalisa, die Weise

 
Es war einmal…..
…und war auch nicht eine junge Mutter und Ehefrau, die mit wachsbleichem Gesicht auf ihrem Sterbebett lag. Ihr Mann und ihre kleine Tochter knieten am Fussende des Bettes und beteten, dass Gott sie heil in die Welt der seligen Geister hinübergleiten möge.
Alsbald rief die Mutter ihre kleine Tochter zu sich, um Abschied von ihr zu nehmen, und das Mädchen, das den schönen Namen Vaslisa trug, kniete an der Seite des Bettes nieder, um die letzten Worte ihrer Mutter zu vernehmen.
„Hier, nimm diese Puppe an dich, und behalte sie immer bei dir“, flüsterte die Mutter und zog unter ihrer härenen Decke ein kleines Püppchen hervor, das genau wie ihre Tochter aussah und genau wie sie gekleidet war, mit roten Stiefeln an den Füssen, einem schwarzen Rock, einer weissen Schürze darüber, und einer Weste, die über und über mit bunten Fäden bestickt war.
„Dies sind meine letzten Worte, mein Kind“, sprach die Mutter. „Höre mir gut zu. Wenn du Hilfe brauchst oder mal den Weg verlierst, dann frage diese Puppe um Rat. Behalte sie immer bei dir, aber erzähle niemandem von ihr. Füttere die Puppe, wenn sie hungrig ist, dann wird sie dir helfen. Dies ist mein Gelöbnis und mein Vermächtnis an dich.“ Und damit sank der Atem der Mutter in die Tiefen ihres Herzens, sammelte sich in ihrer Seele, entwich aus ihrem Munde, und die Mutter starb.

Lange Zeit trauerten der Vater und das Kind. Lange, lange betrauerten sie den schmerzlichen Verlust der guten Mutter und Ehefrau. Aber irgendwann kam auch zu ihnen ein neuer Frühling und mit ihm neuer Lebensmut, und eines Tages verkündete der Vater, dass er sich mit einer Witwe, die selbst zwei Töchter mit in die Ehe brachte, vermählen würde. Und so geschah es.
Die Stiefmutter und die beiden Halbschwestern begegneten Vasalisa mit ausgesuchter Höflichkeit, aber schon bei ihrer ersten Begegnung lag in ihrem Lächeln etwas Falsches, das dem Vater vollkommen entging, das er einfach nicht bemerken wollte oder konnte.
Kaum, dass die drei Frauen allein mit Vasalisa im Hause waren, quälten sie das Mädchen mit tausend Gehässigkeiten und trugen ihm die niedrigsten Arbeiten auf. Bald wurde Vasalisa im eigenen Elternhaus nur noch wie eine Dienstmagd behandelt, denn sie war ihrer Stiefmutter und ihren Stiefschwestern ein ewiger Dorn im Auge. Aber das lag daran, dass Vasalisa schön war, so lieblich und gut wie ein Wesen aus einer besseren Welt, während die drei anderen Frauen vor Neid und Missgunst bald immer hässlicher wurden. Doch Vasalisa liess alle Demütigungen klaglos über sich ergehen. Willig tat sie alles, was ihr von den bösen Frauen aufgetragen wurde und gehorchte jedem auch noch so boshaften Befehl.

So ging es eine ganze Weile, aber eines Tages konnten die drei Quälgeister selbst Vasalisas Anblick nicht mehr in Haus und Hof ertragen, und so sprach die böse Stiefmutter zu ihren Töchtern: „Wir wollen das Feuer ausgehen lassen und dann Vasalisa in den Wald schicken, damit sie die Hexe Baba Yaga um frische Kohlenglut für unseren Herd bittet. Wenn Baba Yaga das Mädchen sieht, wird sie es mit Haut und Haaren fressen, und damit sind wir Vasalisa endlich los!“ Die Stiefschwestern klatschten in die Hände, quietschten vor Vergnügen über diesen Plan und willigten schadenfroh ein.

Als Vasalisa an jenem Abend vom Holzsammeln im Wald zurückkam, war alles dunkel im Haus. Besorgt fragte sie ihre Stiefmutter: „Was ist geschehen?“ Womit sollen wir nun die Finsternis erhellen, woran uns wärmen, und wie sollen wir unser Abendessen kochen?“
„Du einfältiges Ding“, gab die Stiefmutter spitz zurück. „Siehst du nicht, dass das Feuer erloschen ist? Du musst sofort in den Wald gehen und die alte Baba Yaga suchen, um dir von ihr etwas Kohlenglut geben zu lassen. Ich kann nicht so weit laufen, weil ich zu alt dafür bin, und meine Töchter fürchten sich im Wald. Nun geh schon, und wage es nicht, ohne Kohlenglut zurückzukommen!“
Artig, wie sie war, gehorchte Vasalisa und ging noch in derselben Nacht in den grossen, dunklen Wald. Aber sie wusste den Weg nicht, und das Dickicht des Waldes wurde immer dichter und immer undurchdringlicher, und das Knistern und Knacken zwischen den Bäumen wurde ihr allmählich immer unheimlicher, bis sie sich wirklich zu fürchten begann und einsah, dass sie ihren Weg niemals allein aus dem nächtlichen Wald herausfinden würde. So griff sie in die tiefe Tasche ihrer Schürze, wo sie die Puppe ihrer Mutter fühlen konnte, und dachte bei sich selbst: „Wenn ich meine Puppe nur berühren kann und weiss, dass sie bei mir ist, geht es mir schon ein wenig besser.“
Bei jedem Schritt, jeder Wendung nach links oder rechts, griff Vasalisa nun in ihre Schürzetansche und fragte ihre Puppe: „Soll ich mich hierhin oder dorthin wenden?“ Die Puppe antwortete jedesmal und wies ihr den Weg, und Vaslisa fütterte sie mit den Brotkrumen, die sie immer für die Puppe bereithielt. Immer wieder fragte Vaslisa, wie sie zu der alten Hexe Baba Yaga kommen sollte, und die treue Puppe antworte ihr.
So verging Stund um Stund, bis ein weissgekleideter Reiter auf einem weissen Hengst an Vaslisa vorüberpreschte und der Morgen graute. Ein Stück weiter auf ihrem Weg galoppierte ein rotgekleideter Reiter auf einem roten Pferd an ihr vorbei, und die Sonne ging auf. Vasalisa ging weiter, immer weiter durch den Wald, bis sie am folgenden Abend endlich bei Baba Yagas Hütten angekommen war. Sie betrat schon den Vorhof zu dem alten Hexenhaus, als ein schwarzer Reiter auf einem pechschwarzen Pferd mitten durch das Haus von Baba Yaga jagte und hinten wieder herauskam. In dem Augenblick brach die Nacht über das Land herein.

Baba Yagas Hexenhaus war ein höchst merkwürdiges und gruseliges Gebäude. Schon der Zaun vor dem Haus bestand allein aus Gebeinen und aufgespiessten Totenschädeln, die in der Dunkelheit nun von innen her zu glühen begannen und ein gespenstisches Licht verbreiteten. Aber noch verwunderlicher war Baba Yagas Wohnhaus selbst. Es stand auf vier gelben Hühnerbeinen, die hin und wieder zuckten und sich manchmal mit dem ganzen Überbau fortbewegten, oder sogar, wenn ihnen der Sinn danach stand, in einem wilden Walzertanz im Kreis herumwirbelten.
Es dauerte nicht lange, da kam die Hexe daselbst durch die Lüfte gesaust, in einem fliegenden Hexenkessel, den sie mit ihrem Besen über den sternenklaren Nachthimmel ruderte. Aus der Höhe blickte Yaga auf die arme Vaslisa herab, schwang drohend ihren Besen aus Knochen und Menschenhaaren und rief mit Donnerstimme: „Hohoh, du Menschenkind! Was hast du hier zu suchen?“.
Zitternd antwortete Vasalisa: „Grossmutter, ich bin gekommen, um dich um Feuer für mich und meine Familie zu bitten. Mein Haus ist kalt, und meine Angehörigen müssen sterben, wenn du mir nicht etwas Kohlenglut gibst.“
„Ja, ja, so geht es dir und deinesgleichen“, erwiderte Baba Yaga ingrimmig. Ihre Nase war wie ein Haken zu ihrem vorspringenden Kinn herabgebogen, aus dem ein spärlicher Ziegenbart spross. Eine dicke Warze sass auf der Wange der Alten, die nun schrie: „Du Nichtsnutz hast das Feuer ausgehen lassen. Ja, ja, ich kenne das. Und warum, so frag ich, soll ich ausgerechnet dir die Flamme geben?“
Schnell und heimlich fragte Vasalisa ihre Puppe um Rat und antwortete dann:“weil ich dich darum bitte!“ „Hm“, knurrte die Hexe. „Glück gehabt. Das war die richtige Antwort. Aber ich gebe dir das Feuer erst, wenn du die Aufgaben erfüllen kannst, die ich dir stelle. Und wenn es dir nicht gelingt, musst du sterben.“
Vasalisa willigte in diesen Handel ein, und Baba Yaga brummte: „Zuerst musst du alle meine Kleider waschen, dann musst du mein Haus fegen, mir eine gute Mahlzeit bereiten und den verschimmelten Weizen in meiner Kornkammer vom guten Weizen trennen. Ich werde beim ersten Morgengrauen zurückkehren, und wenn du bis dahin nicht all diese Aufgaben erledigt hast, werde ich dich mit Haut und Haaren fressen.“
Damit flog Baba Yaga in ihrem Hexenkessel davon, und Vaslisa wandte sich voll Schrecken an ihre Puppe: „Was soll ich nur tun?“ Wie soll ich mit all dem nur rechtzeitig fertig werden?“ aber die Puppe versicherte ihr, dass alles vollbracht sein würde, noch bevor der Morgen graute, und die letzte und schwierigste Aufgabe würde erledigt, während Vaslisa sich zur Ruhe begab und schlief. So wusch Vasalisa die Kleider der Alten, fegte das Haus, kochte eine Mahlzeit, nahm ein wenig von Baba Yagas Essen zu sich, fütterte auch ihre treue Puppe und begab sich zur Ruhe in Baba Yagas Hexenhaus.

Als Baba Yaga beim ersten Morgengrauen zurückkehrte, waren ihre Kleider gewaschen und getrocknet, die Mahlzeit stand auf dem Tisch, das Haus war blitzblank geputzt, und ein riesiger Berg guten Weizens war fein säuberlich vom schlechten Weizen getrennt worden. Die Hexe konnte beim besten Willen keinen Mangel an Vaslisas Werken finden. „Nun, da hast du wohl wieder einmal Glück gehabt“, brummte sie, und dann rief sie ihre dienstbaren Geister herbei, die als drei Paar körperlose Hände aus dem Nichts erschienen und emsig begannen, den guten Weizen zu enthülsen und ihn in der Luft zu Brei zu stampfen. Den Brei verschlang die Alte mit sichtlichem Genuss, aber als sie fertig war, deutete sie auf einen riesigen Erdhaufen vor ihrer Haustür und sagte zu Vasalisa: „In diesem Erdhaufen verbergen sich Millionen von winzig kleinen Mohnsamen. Die musst du in der kommenden Nach von allem Schmutz und allen Erdresten trennen. Und wenn dir das nicht gelingt, musst du sterben.“
Beim Anblick des Erdhaufens blieb Vasalisa vor Schreck beinahe das Herz stehen, aber sie griff in ihre Schürzentasche, und die Puppe flüsterte sogleich: „Mach dir keine Sorgen, ich werde dir helfen.“
In jener Nacht versuchte Vaslisa, sämtliche Mohnsamen von dem Schmutz der Erde zu trennen, aber nach einer Weile sagte die Puppe: „Begib dich zur Ruhe, und du wirst sehen, dass am Morgen alles zum besten bestellt sein wird.“
Und so war es. Als die Alte beim Morgengrauen heimkehrte, lagen Erde und Mohnsamen fein säuberlich getrennt vor ihrem Haus. „So, so“, knurrte die Hexe anerkennend. „Da hast du wohl tatsächlich einmal etwas fertiggebracht.“ Sie rief ihre treuen Dienstgeister herbei und trug ihnen auf, das Öl aus den Mohnsamen zu pressen. Drei Paar körperlose Hände taten, wie ihnen befohlen, und Baba Yaga beschmierte ihre faltigen Lippen mit dem Mohnsamenöl.

Da trat Vasalisa einen Schritt auf die Alte zu und sagte: „Darf ich dich etwas fragen, Grossmutter?“
„Fragen wohl“, gab Yaga zurück. „Aber bedenke, dass zu viel Wissen den Menschen vorzeitig altern lässt.“
Da fragte Vasalisa die Hexe, was der weisse Reiter auf dem weissen Hengst zu bedeuten habe.
„Ah“, murmelte die Yaga. „Dieser erste ist mein Tag.“
„Und der rote Reiter auf dem roten Pferd, was ist er?“
„Ah, dieser ist meine aufgehende Sonne.“
„Und der schwarze Reiter auf dem schwarzen Pferd?“
+Ah, der dritte im Bunde, er ist meine Nacht.“
„Oh“, sagte Vaslisa. „Ich verstehe.“

„Nun denn, möchtest du vielleicht noch ein paar weitere Fragen stellen?“ erkundigte sich die Alte lauernd. Gerade wollte Vaslisa nach den körperlosen Händen fragen, als die Puppe in ihrer Schürzentasche warnend auf- und niederhüpfte. Deshalb entgegnete Vaslisa schnell: „Nein, Grossmutter. Wie du schon sagtest, zu viel Wissen macht den Menschen vorzeitig alt.“
„Ha, du bist weiser, als ich dachte, meine Kleine. Wie geht das zu?“ fragte die Hexe.
„Der Segen meiner Mutter liegt auf mir“, antwortete Vaslisa.

„Segen?“ rief Baba Yaga. „In diesem Haus wird kein Segen gebraucht. Mach, dass du nach Hause kommst!“ Damit stiess sie das Mädchen vor die Tür. Von ihrem unheimlichen Gartenzaun brach sie einen der Totenschädel ab, die in der Dunkelheit von innen her leuchteten, und reichte ihn Vasalisa. „Hier. Nimm diesen Feuerschädel und trage ihn auf einem Stock mit dir nach Hause. Da hast du dein Feuer. Und nun kein Wort mehr. Mach dich auf den Weg.“

Vasalisa wollte der Yaga danken, aber die Puppe begann in ihrer Tasche auf- und abzuspringen, und da erkannte Vasalisa, dass sie das Feuer wortlos entgegennehmen und sich sofort auf den Weg machen musste.
Sie rannte den ganzen Weg nach Hause, und die Puppe wies ihr auch diesmal den Weg durch den Wald. Aber nach Einbruch der Dunkelheit sprangen Flammen aus den Nasenlöchern, Augenhöhlen und dem grinsenden Mund des Schädels, und da begann Vasalisa sich zu fürchten. Sie dachte schon daran, den unheimlichen Schädel fortzuwerfen und sich auf und davon zu machen, als dieser zu sprechen begann und ihr zuraunte: „Beruhige dich und trage mich nur unbeirrt zu dem Hause, in dem deine Stiefmutter und deine Stiefschwestern leben.“

Als die böse Stiefmutter und ihre Töchter in jener Nacht einmal aus dem Fenster blickten, sahen sie ein flackerndes Licht zwischen den Bäumen des Waldes einher schwanken, ein rätselhaft feuriges Glimmen, das näher und näher kam. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten, denn längst hatten sie Vasalisa lange Abwesenheit damit erklärt, dass sie wohl tot war, und heimlich hatten sie sich darüber gefreut und gemeint, sie ein für allemal los zu sein.

Aber nun war der flackernde Lichtpunkt in ihren Hof eingekehrt, und da rannten die drei zur Eingangstür und erkannten zu ihrem Entsetzen, dass Vasalisa ihnen das Feuer gebracht und den Schrecken der furchtbaren Baba Yaga überlebt hatte.

Scheinheilig dankten sie Vasalisa und gaben zu, dass es ihnen in all der Zeit nicht gelungen war, selbst ein Feuer zu entfachen. Vasalisa zündete das Feuer an und legte sich dann, müde von ihrem langen Weg, zum Schlafen ins Bett. Die Stiefmutter und ihre Töchter rangen die Hände und liefen hierhin und dorthin, um sich heimlich zu beraten und einen neuen Plan auszuhecken, doch der feurige Totenkopf beobachtete jede ihrer Bewegungen und brannte sich in sie ein und liess sie nirgends zur Ruhe kommen. Und als Vasalisa am nächsten Morgen erwachte, sah sie, dass nur noch ein Häuflein Asche von den dreien übrig war.

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